Isabel Cristina Arendt / Marcos Antônio Witt / Günter Weimer

Die deutsche Einwanderung in Rio Grande do Sul

Die deutsche Einwanderung in Rio Grande do Sul
Panorama der Stadt Ijuí/RS, ohne Datum. Historisches Museum Visconde de São Leopoldo

Die ersten deutschen Einwanderer trafen 1824 in Rio Grande do Sul ein. Sie kamen aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Die Gruppe, die sich in der Kolonie São Leopoldo am Ufer des Rio dos Sinos nahe der Provinzhauptstadt Porto Alegre ansiedelte, bestand aus Bauern, Handwerkern und Soldaten. Diese Zusammensetzung war eng mit den Absichten verbunden, die das brasilianische Kaiserreich mit der Einwanderung von Europäern verfolgte: einen Binnenmarkt zu schaffen und zu beleben; ein Gegengewicht zur Macht der Großgrundbesitzer zu bilden; die Entwicklung kleiner Manufakturen zu fördern, aus denen dann mittlere und große Industriebetriebe entstehen sollten; allmählich die Arbeitskraft der afrikanischen Sklaven zu ersetzen; und Männer für den Einsatz in den Kriegen bereitzustellen, die Brasilien im Laufe des 19. Jahrhunderts führte.

Ein Teil der Geschichtsschreibung, die sich dem Thema der Einwanderung gewidmet hat, schuf die Vorstellung, dass die große Mehrheit der Einwanderer aus Bauern bestanden habe. Doch wir wissen, dass in São Leopoldo zwischen 1824 und 1845 60% der Männer Handwerker aus den Bereichen der Eisenverarbeitung, Textilproduktion, des Handels usw. waren. Aus diesem Handwerk gingen kleine, mittlere und große Gewerbe und Industriebetriebe hervor. Nachnamen wie Adams, Arnt, Dreher, Gerdau, Mentz, Oderich, Renner, Ritter, Trein u. a. erschienen auf der wirtschaftlichen Bühne Brasiliens. Man kann daran erkennen, dass das von deutschen Einwanderern ins Land gebrachte und von ihren Nachkommen weitergeführte Handwerk florierte und einigen Familien ermöglichte, Industriebetriebe zu gründen.

Novo Hamburgo z. B., eine nahe Porto Alegre gelegene Stadt, führt den Titel der „nationalen Hauptstadt der Schuhproduktion“ und besitzt ein spezielles Museum, das Museu do Calçado (Schuhmuseum), um die Saga der ersten deutschen Einwanderer zu schildern, die sich der Lederverarbeitung widmeten. Daraus entwickelte sich das Handwerk, das Stiefel, Schlappen und Reitsättel herstellte. Aus den Schusterwerkstätten und kleinen Manufakturen mit Meistern und Lehrlingen entstanden schließlich die ersten Industriebetriebe der Leder- und Schuhbranche, die über die ganze Stadt verteilt waren. Ein Teil des 19. und des 20. Jahrhunderts wurden Zeugen davon, wie Familien zu Reichtum gelangten, die in Gerbereien und/oder in Fabriken investierten, wo Leder zu Schuhen oder Taschen verarbeitet wurde, sowohl für den inländischen als auch für den ausländischen Markt. Der Ursprung Novo Hamburgos liegt in den Handwerksunternehmungen des 19. Jahrhunderts.

1827, drei Jahre nach dem Beginn der Einwanderungsbewegung, bemerkte Carl Seidler: „Deutsche Handwerker, vorzüglich Tischler, Schneider und Schuhmacher, gab es damals an diesem Orte [Porto Alegre] in großer Menge, und sie standen sich sämtlich sehr gut; denn man zahlte gern einem deutschen Arbeiter das Doppelte von dem was man einem Eingeborenen gab.“ Dreißig Jahre später publizierte Carlos Jansen eine wertvolle Folhinha Rio-Grandense, mit einer sorgfältigen Erhebung der von den Bewohnern Porto Alegres ausgeübten Tätigkeiten. Auf der Grundlage dieser Daten können wir schätzen, dass der deutschstämmige Anteil der Bevölkerung dieser Stadt an die 15% betragen musste, wovon 67% Handwerker, 20% Händler und die restlichen 13% Freiberufliche waren. Die Gruppe der Einwanderer war folglich recht heterogen, allerdings eröffneten nur die erfolgreichsten Händler Geschäfte in der Hauptstraße der Stadt. Der relative Reichtum in den „deutschen“ Kolonien ließ einen Berufszweig entstehen, der grundlegende Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Bundesstaates erlangen sollte: den Musterreiter (Handlungsreisenden). Als Vertreter der wichtigsten städtischen Import- und Exportzentren spielten sie eine maßgebliche Rolle bei der Aktualisierung der Produktionsmethoden und der Hebung des kulturellen Niveaus in den Kolonien. Diese Wechselwirkung zeigt, wie gut diese Händler über die Bedürfnisse der Bauern unterrichtet waren.

Bis heute ist der Staat Rio Grande do Sul ein Synonym für deutsche und italienische Einwanderung. Die ersten Zeitungen und Kalender wie z. B. die Zeitung Der Colonist in Porto Alegre (1852) und der erste Kalender, Koseritz‘ Deutscher Volkskalender für Brasilien (1874), wurden in Rio Grande do Sul veröffentlicht. Darüber hinaus entstand Bedarf an der Gründung deutscher Schulen. 1850 gab es 24 Schulen. Die meisten waren kleine Schulen mit nur einem Lehrer und mit der katholisch/ jesuitischen oder lutheranischen Kirche verbunden. Wegen der deutschen Schulen wuchs auch der Markt für die Publikation von Schulbüchern durch Verlage wie den 1877 gegründeten und bis heute exisitierenden Rotermund-Verlag, den berühmtesten unter ihnen. Die Einwanderer organisierten ihr religiöses Leben selbst, bauten ihre Kirchen (anfänglich dienten die Schulen auch als Kapellen) und legten Friedhöfe an. In Rio Grande do Sul war es auch, wo das soziale und gemeinschaftliche Leben der deutschen Einwanderer mit der Gründung von Vereinen, Klubs und Gesellschaften begann, mit einer breiten Vielfalt an Schwerpunkten: vom Sport über soziale Hilfe bis zu Freizeitvergnügen, Unterhaltung, Kultur und Erholung. So z. B. dauert die Tradition der typisch deutschen Feste wie Kerb und Oktoberfest bis heute im Süden und Südosten Brasiliens fort.