Einer der Fälle, in denen ein Autor in deutscher Sprache über ein südamerikanisches Thema schrieb, ohne jemals auf diesem Subkontinent gewesen zu sein, ist der Roman Alfred Döblins, der in seinen jüngsten Ausgaben unter dem Titel Amazonas veröffentlicht wurde. Der Autor veröffentlichte im Jahr 1929 sein berühmtestes Werk, Berlin, Alexanderplatz. Am 28. Februar 1933, nach dem Reichtagsbrand, hatte er mehr als genügend Gründe, um Deutschland zu verlassen und sich in Paris niederzulassen. In Frankreich, wo er zur Ausübung seines ärztlichen Berufes nicht zugelassen wurde, las und schrieb Döblin während der meisten Zeit. An einem seiner Lektüretage in der Nationalbibliothek in Paris, nahm er aus Zufall einen Atlas über das Becken des Amazonasflusses in die Hand. Von der mächtigen Wassermasse des großen Flusses fasziniert, suchte er sich eine Reihe von weiteren Büchern aus, die mehr oder weniger mit ihm verbunden waren, mit „diesem Wunderwesen Strommeer, ein urzeitliches Ding. Seine Ufer, die Tiere und Menschen gehörten zu ihm“.
Ausgehend von diesen Lektüren schrieb Döblin zwischen 1935 und 1937 ein Werk, das anfänglich in zwei Bänden erschien: Die Fahrt ins Land ohne Tod¸1937, und Der blaue Tiger, 1938. Ab der zweiten Ausgabe, 1947, nimmt das Werk die Form einer Trilogie an. Der zweite Band der ersten Ausgabe teilt sich in zwei, wobei der zweite dieser Bände den Titel Der neue Urwald erhält. Seit der Ausgabe des Jahres 1963 wurde diese Trilogie unter dem Titel Amazonas veröffentlicht.
Indianer und Konquistadoren
Das Land ohne Tod¸ so lautet heute der Titel des ersten Bandes der Trilogie, beginnt mit der Erzählung des Aufstandes der Frauen eines indigenen Volkes in der Region des Uaupés, eines Nebenflusses des Rio Negro, die sich dazu entschließen, ihre Männer zu töten, auf das Zusammenleben mit Männern überhaupt zu verzichten, und von da an als ein ausschließlich aus Frauen bestehendes Volk weiterzuleben: die Amazonen. Döblin fand diese Legende in einer 1927 von dem deutschen Ethnologen Theodor Koch- Grünberg veröffentlichten Sammlung indianischer Märchen und Legenden.
Döblin privilegiert diese klassische, näher an Rousseau liegende Sicht des Indianers als „bon sauvage“; mit anderen Worten, Döblin braucht eine Figur, die sein Lob des Primitiven bestätigt, das in seinem 1938 veröffentlichten Aufsatz Prometheus und das Primitive zu finden ist.
In Döblins Roman beginnen die Amazonen eine Reise, während der sie auf Botschafter der Inkas treffen, welche die Eroberung ihres Reiches durch die Spanier beschreiben; dabei gehen sie ins Detail in Bezug auf deren Grausamkeit und deren Gier, die beide für die indianische Denkweise vollkommen unverständlich sind. Der Anführer der Botschafter und seine Mitreisenden wollen die Völker am Rande des großen Flusses vor der Gefahr, welche die Weißen mit sich bringen, warnen. Sie teilen aber das gleiche Schicksal aller Männer, auf welche die Amazonen während ihrer Reise treffen: den Tod.
Das zweite Buch des ersten Bandes, Das Reich Cundinamarca, verlegt die Handlung auf das kolumbianische Hochplateau, auf dem die Chibchas ihre Kultur aufgebaut hatten. Drei Kolonnen von Konquistadoren kommen dort gleichzeitig an, auf der Suche nach dem legendären Eldorado, und zertrümmern die dortige Zivilisation. Es ist bedeutsam, dass Alfred Döblin, unter so vielen anderen Quellen, die er in der französischen Nationalbibliothek finden konnte, gerade diese bevorzugt, weil zwei der drei Kolonnen, die in Cundinamarca ankommen, von Deutschen, namens Ambrosius Alfinger und Nikolaus Federmann, angeführt wurden.
Jesuiten und Mameluken
Der zweite Band der Trilogie, in dem ein Bild Brasiliens erscheint, das Döblin ausschließlich aus seinen Lektüren entnehmen konnte, ist in fünf Bücher unterteilt. Das erste dieser Bücher trägt den Titel São Paulo. Der Autor beschreibt die Ankunft der Jesuiten auf dem Hochplateau von Piratininga, und schildert die dort angesiedelten Weißen als vielleicht weniger blutrünstig, keinesfalls aber weniger gierig als die ihresgleichen im ersten Band. Die Ware, mit der sie bevorzugt handeln, sind Menschen, versklavte Indianer.
Die Jesuiten, angeführt von Pater Manoel da Nóbrega, verlassen die von ihnen gegründete Stadt São Paulo, da sie die Einstellung der dort lebenden Laien nicht ändern können. Sie ziehen durch den Urwald, der nochmals mit kargen Worten beschrieben wird, ohne jedoch seine primitive, reine, aber auch ominöse Schönheit zu verschweigen.
Das dritte Buch, Das indianische Kanaan, setzt das Vorangegangene fort und beschreibt die Gründung der ersten jesuitischen Einrichtungen in der Region des Rio Guairá, im Süden Brasiliens, ihre Blüte, aber auch ihre negativen Auswirkungen, sowohl in São Paulo und Asunción, als auch in Madrid. Das einzige europäische Projekt einer kulturellen und menschlichen Integration in Südamerika ist bedroht. Der einzige historisch dokumentierte Versuch, eine Gemeinschaft aufzubauen, um europäische Vorstellungen und Glaubensformen inmitten des amerikanischen Paradieses zu etablieren, das auf diese Weise nicht weiter ein verlorenes sein würde, wird ein böses Schicksal erleben.
Das vierte Buch des zweiten Bandes, Die Arche Noah, beginnt mit der Erzählung einer seltsamen Episode, die zur Geschichte São Paulos gehören sollte, aber in der Tat reine Fiktion ist. Diese Episode, die den meisten Historikern unbekannt ist, erzählt von Nicolau Riubuni, dem „König São Paulos“. Es handelt sich um einen apokryphen Text, der um 1756 angeblich in São Paulo unter dem Titel Histoire de Nicolas 1er, Roi du Paraguai et Empereur des Mamelus veröffentlicht wurde. Es ist eine bekannte Tatsache, dass es 1756 in São Paulo keine Presse gab, gar nicht geben durfte. Das Ziel dieser Veröffentlichung, deren Initiative dem Marquis Pombal zuzuschreiben sein mag, war die Verunglimpfung des Images der Jesuiten. Döblin verkehrt diese Absicht ins Gegenteil und gebraucht die Figur Riubunis um die Paulistas zu kritisieren.
Das fünfte Buch des zweiten Bandes, Die Zeitenwende, beginnt auf dem Höhepunkt der Christlichen Republik – so benennt sie der Autor – und endet mit ihrer Zerstörung. Das Projekt eines menschlichen und transzendentalen Zusammenlebens zwischen Europäern und Eingeborenen scheitert. Der Kontakt zwischen diesen beiden Zivilisationen endet tragisch, unabhängig nicht nur von den Nationalitäten derjenigen, die aufeinandertreffen, sondern auch von ihren Intentionen. Amerika, anfänglich als ein Paradies gesehen, allerdings kein friedliches und ruhiges, sondern ein primitives und gewalttätiges Paradies, verfügt über keine Kräfte, um sich dem Impetus des moralischen Niedergangs, dem Ehrgeiz zu widersetzen, die sich als Treibkräfte des europäischen Expansionismus darstellen.
Ein zeitlicher Sprung
Der dritte Band der Amazonastrilogie, Der neue Urwald, beginnt im Inneren der bewundernswerten Frauenkirche in Krakau. Döblin greift eine Figur auf, von der er während einer Reise in dieser Stadt 1925 gehört hatte, ein Kavalier namens Twardovsky, eine Art polnischer Faust, der die Geister von Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno weckt, um sie mit der Welt der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zu konfrontieren, mit der Barbarei die, seines Erachtens, die Früchte der Weiterentwicklung der von den drei großen Denkern begründeten Denkweisen sind. Im gleichen Maß zeigt Twardovsky auch den Impetus der Konquistadoren in Amerika als eine Folge der Ideen dieser drei Denker, als Ergebnis des Triumphes der prometheischen Denkweise über die primitive.
Nach einer Reihe von Peripetien wird eine der Figuren dieses Bandes aus Frankreich nach Cayenne, im französischen Guiana verbannt. Zusammen mit anderen Verbannten wird eine Flucht organisiert, die sie in die Tiefe des amazonischen Urwalds führt. Und dort schließt sich der große Bogen, den der Autor am Ende des ersten Bandes gespannt hatte. Im Inneren des Urwalds treffen die Flüchtlinge auf eine Gruppe von Eingeborenen, die vier Jahrhunderte zuvor, im ersten Band der Trilogie, eine Pilgerreise auf der Suche nach dem Land ohne Tod angefangen hatte, einem Land, das hinter dem Ozean liege und in dem das ewige Glück vorherrschen, und Milch und Honig aus Quellen entspringen würden... Aber diese Pilgerreise, die tatsächlich stattfand, endete inmitten des 20. Jahrhunderts in einem kollektiven Selbstmord, an Stränden im Süden Brasiliens. Dieser kollektive Selbstmord wird von Döblin aufgegriffen, und er schließt sein Werk mit dieser schreckenserregenden Szene, in der er der Göttin Sukuruja die führende Rolle zuspricht:
Sukuruja schwang die Keule. Sie jauchzte am Waldrand. Es stellten sich Hirsche, Tapire und Reiher ein. Sie folgten ihr, sie schritten mit ihr. Sie suchten zu tanzen, wie die Menschen getanzt hatten, als sie den großen Vater riefen. Es kommt das Land, wo man nicht stirbt und wo es nichts Schlechtes gibt. Die Schaufeln werfen allein den Boden auf. Die Früchte steigen von selbst in die Häuser. Die Geister rauschten an, rauschten in Scharen um sie. Am Ufer des Stromes raschelte Sukuruja als Schlange. Sie tauchte ins Wasser. Ihr nach in den Strudel die Tausende.
Diese sind die letzten Zeilen der Trilogie. Es gibt für niemanden eine Rettung. Es gibt keine Rettung für die Indios: jahrhundertelang von den Europäern gejagt, finden sie das heilige Land ihrer Mythen nur über den Weg des Todes. Es gibt auch keine Rettung für die Europäer: Ihr Glaube an die unaufhaltsame Macht des materiellen Fortschritts zerrt sie in Richtung eines schmählichen Endes, selbst wenn sie versuchen, in der mythischen Welt der Indios Zuflucht zu finden.