Alberto Dines

„Experiment Brasilien“: Die leidige Schimäre des Stefan Zweig

„Experiment Brasilien“: Die leidige Schimäre des Stefan Zweig
Abschiedsbrief von Stefan Zweig

Utopische Weitsicht oder simple Kurzsicht, Touristenprospekt, Wirtschaftsprognose oder messianische Schwärmerei? Lag Zweig mit seiner Prophezeiung richtig oder waren es die Brasilianer, die sich seinem Modell verwehrt haben? „Brasilien, ein Land der Zukunft“ ist eine vor mehr als sieben Jahrzehnten eröffnete Debatte – seit August 1941, als das Buch in Brasilien und bald darauf in sechs anderen Sprachen erschien. Und sie ist noch lange nicht abgeschlossen, ja sie hat nicht einmal begonnen. Seit der Entdeckungszeit fand keine andere Schrift über Brasilien einen solchen Widerhall und hat so viele Eitelkeiten erregt. Der von Zweig verwendete Titel (in Wirklichkeit eine Anregung des Übersetzers ins Englische, James Stern) ist nicht nur ein literarischer Fund, er ist zum Nachnamen des Landes geworden. In allen Ecken der Welt ist Brasilien untrennbar vom Beisatz (oder wahren Namen?) „Land der Zukunft“.

Fluch oder Herausforderung, die Kennzeichnung blieb für immer haften. Selbst in Bezug auf das „Land der Gegenwart“, wie es US-Präsident Barack Obama bei seinem Besuch in Brasilien (2011) formulierte, stand hinter der positiven Metapher eine andere, diffuse und irritierende, die des Zukunftslandes. Niemand verkündet, dass Zweig Recht hatte, niemand verwirft seine Folgerungen. Der Titel sowie seine Grundtöne wurden zu einer unbequemen Auszeichnung mit einem nicht abzuschüttelnden Ballast an Ungesagtem, Unbehaglichkeiten und Verlegenheiten. Keine Regierung pries ihn oder feierte den Autor. Außer der von Getúlio Vargas, der Zweigs Begeisterung und Zuneigung für die Brasilianer vereinnahmte, sie in Reverenz für den Estado Novo ummünzte und sie sechs Monate später damit vergalt, dass er dem Selbstmörder eine offizielle Begräbnisfeier ausrichtete. Das tragische Ende des Utopisten kompromittierte in gewisser Weise seine Utopie.

Mitten in der Ära des nazistischen Übermenschen entging Zweig der provinzlerischen Versimplung von Monteiro Lobatos Jeca Tatu und dem exotischen Macunaíma Mario de Andrades und bot als Alternative den vernünftigen, zufriedenen, manchmal trübsinnigen, findigen Brasilianer und vor allem einen, der ganz anders war als die Klischeebilder, welche die Reisenden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer Berauschtheit von der üppigen Natur des Landes über dessen Bewohner fantasiert hatten.

Was Zweig gleich auf den ersten Seiten als „Experiment Brasilien“ taufte, war in Wirklichkeit eine Faszination für die ethnische Vermischung. Inmitten des Rassenhasses, der Europa beherrschte und ihn so sehr entsetzte, bot Brasilien friedselig und ohne zu prahlen ein Projekt des Zusammenlebens in farbiger Vielfalt, mit dem unerlässlichen Quantum an Toleranz gegenüber den Unterschieden.

Wo aber sittliche Kräfte am Werke sind, ist es unsere Aufgabe, diesen Willen zu bestärken. Wo wir in unserer verstörten Zeit noch Hoffnung auf neue Zukunft in neuen Zonen sehen, ist es unsere Pflicht, auf dieses Land, auf diese Möglichkeiten hinzuweisen...“ Dies wurde das neue Projekt des Wiener „Seelenjägers“ (so Romain Rolland) und Sammlers von Idealen. Das Buch half ihm schließlich, das wertvolle Aufenthaltsvisum zu erhalten, und zwar in einem Moment, als die Flüchtliche vor dem Nazifaschismus in die Herkunftsländer und zur Gestapo zurückgeschickt wurden. Und gleichzeitig bot es ihm die Gelegenheit, sich demonstrativ und deutlich in die Legion der Hitler-Gegner einzureihen, ohne sich auf die parteipolitische Radikalisierung einzulassen, die er so sehr verabscheute.

Er hatte versprochen, zum Hausierer Brasiliens in Europa zu werden. Allerdings waren die Wesenszüge, die er da propagierte, nicht nach dem Geschmack der Eliten, welche den braunen Teint nur im Sommer schätzten. Das mulattenfarbige Brasilien, das Zweig der Welt verkaufen wollte, war ein antihitlerisches und antirassistisches Banner. Auch dieses eher störend, bis August 1942, als Brasilien in den Krieg eintrat und Zweig schon tot war.

Als er im Jahr 1936 zum ersten Mal braslianischen Boden betrat, war der Kern der Ideen, die Gilberto Freyre drei Jahre zuvor in Herrenhaus und Sklavenhütte lanciert hatte, bereits gut bekannt. Obwohl promovierter Historiker, war Zweig kein theoretisierender Kopf. Im nicht-fiktionalen Bereich (einschließlich der Biografien) fühlte er sich wohler in der Rolle als Vermittler und dabei verband er den Scharfblick des Beobachters mit den Wahrnehmungen des feinsinnigen Intellektuellen, denen eine episch getönte Prosa dichterischen Erbes diente. Freyre erwähnt er nicht, doch die von dem pernambucanischen Soziologen so hoch gewertete ethnische Vermischung ist im Kern und in diversen Passagen seines brasilianischen Buches eingeschlossen. Auch der Multikulturalismus, wenngleich der Ausdruck noch nicht existierte. Es war seine Art, die alten internationalistischen, antifremdenfeindlichen und pazifistischen Überzeugungen in einem Land zu bekräftigen, das zu diesem Zeitpunkt von integralistischen Ideen vergiftet war. Die Abneigung gegen den pamphletistischen und polemischen Stil hinderte ihn nicht an einer demonstrativen Widerrede gegen den Vater des modernen Rassismus, Joseph Arthur Gobineau, dessen Prophezeiungen über die unvermeidliche Degeneration der Mischvölker ausdrücklich auf Brasilien zielten (wo er als Botschafter am Hof Pedros II. diente). Zweig reiht den Inspirator der französischen extremen Rechten unter die „besessenen Rassentheoretiker“ ein und widerspricht ihm mit der Feststellung, dass die ethnische Vermischung in Brasilien entgegen der Bekundungen Gobineaus als „bewusst verwertetes Bindemittel einer nationalen Kultur“ wirke. Die im Titel versprochene und noch heute dubios scheinende reiche und erfüllte Zukunft war nicht der Brennpunkt seiner Gedanken. „Auch endgültige Schlüsse, Voraussagen und Prophezeiungen über die wirtschaftliche, finanzielle und politische Zukunft Brasiliens zu geben, muß ich mir redlicherweise versagen.“ Er bekennt sogar ein Unbehagen an Statistiken, am Errechnen des Bruttoinlandprodukts und des Pro-Kopf- Einkommens und verzichtet darauf wissen zu wollen, wieviele Autos, Badezimmer, Radios und Versicherungsgebühren auf jeden Menschen entfallen. Er glaubt nicht, dass die Völker, die als die zivilisiertesten gelten, diejenigen sind, die am meisten produzieren und konsumieren. Und freimütig legt er die Prämisse seiner politischen Schimäre offen: „Wir haben gesehen, daß der höchste Grad von Zivilisation nicht verhindert hat, dass bestimmte Völker dies einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität einsetzen.“

Eines der markantesten Erlebnisse, die Zweig bei seiner ersten Reise in São Paulo hatte, war der Besuch eines völlig autarken Modell-Gefängnisses, das inspiriert war von den Lehren des deutschen Psychiaters Ernst Kretschmer zur Resozialisierung von Kriminellen durch Arbeit. Er kommentierte es in Zeitungen, im Brief an seine liebste Gesprächspartnerin (die Ex-Frau Friderike Zweig) und ausführlich in seinem Brasilien- Buch. In diesem Strafvollzugsexperiment sah er einen weiteren Beweis für die brasilianische Kreativität, sich das Beste, was die Welt zu bieten hat, zunutze zu machen.1

Das „Experiment Brasilien“ ist in Wirklichkeit eine Antwort auf die entscheidende Frage jener turbulenten Zeiten: Wie ist ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen trotz der Verschiedenartigkeit der Rassen, Klassen, Hautfarben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? Hier fand er die Antwort und mit ihr schrieb er das Buch. Ein humanistisches Glaubensbekenntnis, prophetischer Gestus mit biblischem und tellurischem Tonfall auf der Gegenlinie zum technologischen Futurismus, der bereits in Mode war. Gleichwohl widmet er ein Kapitel der Wirtschaftgeschichte des Landes, erkennt dabei mit erstaunlicher Kompetenz einige Konstanten und formuliert Projekte zur raschen Behebung der Ungleichheiten und der Rückständigkeit. Es half ihm der Freund Roberto Simonsen – der einzige im Text genannte Mitwirkende –, der ihm sein umfassendes Wissen und seine Erfahrung als Ingenieur, Unternehmer, Wirtschaftsfachmann, Historiker und Akademiker darbot. Beiläufig sei erwähnt, dass eines der Projekte den Ersatz des (damals im Land so knappen) Erdöls durch Alkohol aus Zuckerrohr vorschlug, was tatsächlich 34 Jahre später ernsthaft in Angriff genommen wurde.

Die Niederschrift des Buches schloss er in der Bibliothek der Universität Yale in New Haven ab und war so von dessen Erfolg in Brasilien überzeugt, dass er sich entschloss, dorthin zurückzukehren, anstatt ein Visum für den Verbleib in den USA zu beantragen. Als er eintraf, war das Buch bereits im Handel und er zur Zielscheibe einer schäbigen und bornierten Pressekampagne geworden. Costa Rego, der allmächtige Chefredakteur des Correio da Manhã, der wichtigsten Morgenzeitung der Bundeshauptstadt, widmete ihm auf der Meinungsseite fünf aufeinanderfolgende Artikel, worin es weder am Gift der Vorurteile gegen die Ausländer mangelte noch an boshaften Anspielungen auf eine vermeintliche Bezahlung aus den Kassen des D.I.P. (Amt für Presse und Propaganda). Es war das Signal für den Rest der Presse, auf den meistübersetzten Schriftsteller der Welt einzuprügeln, dessen einziger Irrtum darin bestand, ein Land zu lieben, das nicht das seine war.

Diese Perfidität überraschte ihn. Er zog sich nach Petrópolis zurück, um sich vom Klatsch zu entfernen und um seine Autobiografie zu beenden, der Markstein, den er gewählt hatte, um sein Leben zu beschließen. Als der Krieg, vor dem er seit sechs Jahren floh, die Neue Welt erreichte, beschleunigte dies den Zeitplan des von der Ungeduld bezwungenen Idealisten. Sein letzter Text mit einem feierlichen Titel auf Portugiesisch, „Declaração“ (Erklärung), hat 21 Zeilen, von denen zehn dem „Experiment Brasilien“ gewidmet sind – jetzt ist es vielleicht so weit gediehen, dass es ernsthaft beurteilt werden kann. Oder archiviert, zusammen mit dem Korb an unangemessenen Herausforderungen und unpassenden Versprechen.

Das Modellgefängnis wurde Jahre später geschlossen und befand sich am Ort der Haftanstalt Carandiru, der Bühne eines Massakers an 111 Gefangenen im Jahr 1992.