Franz Obermeier

Die deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen in der frühen Kolonialzeit und ihre Nachwirkungen

Die deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen in der frühen Kolonialzeit und ihre Nachwirkungen
Titelbild des Buches Wahrhaftige Historia. Faksimile, 1978

Die Geschichte Brasiliens beginnt mit einem Namen.  Als Pedro Alvares Cabral am 22. April 1500 nördlich der heutigen Stadt Porto Seguro, an einer später nach ihm benannten Bucht (Baía Cabrália), die Küste erreichte,  nannte er das Land „Terra da Vera Cruz“ (später „Terra da Santa Cruz“). Dieser offizielle Name sollte dem Land nicht bleiben. Ein Handelsprodukt gab der Weltgegend bald einen neuen Namen: das Brasilholz. Die Bezeichnung „Brasil“ und Ableitungen davon tauchten aber schon im 13. Jahrhundert in italienischen Handelsakten als Name für das rotfarbige Holz auf, das im Mittelalter aus dem Jemen importiert wurde und als Färbemittel hochbegehrt war. Das Wort lebt in romanischen Sprachen als Bezeichnung für die Glut fort, auf portugiesisch „brasa“. Wann sich der Landesname durchgesetzt hat, kann nicht genau datiert werden. Das erste portugiesische Brasilienbuch von Pêro de Magalhães de Gândavo, die Historia da provincia sancta Cruz (Lissabon 1576) verwendet noch die offizielle Bezeichnung, allerdings nicht ohne dem Titel erklärend hinzuzufügen: „a que vulgarme[n]te chamamos Brasil“. In einer deutschen Publikation findet si ch erstmals der heutige Name, und zwar in der nur wenige Seiten umfassenden Copia der Newen Zeytung auß Presillg Landt (Nürnberg 1514). Eine Neue Zeitung war damals ein tagesaktueller Bericht, in dem konkreten Fall über eine Reise in das Land. So hat eine deutsche Publikation erstmals den Landesnamen Brasiliens im Titel geführt.

Die ersten Deutschen, die in das Land kamen, waren Begleiter auf portugiesischen oder auf spanischen Schiffen, unterwegs nach Brasilien oder in den nach einigen vereinzelten Entdeckungsreisen ab 1536 systematisch erschlossenen La Plata-Raum. Sie hinterließen keine administrativen Spuren in den offiziellen Dokumenten. Erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts sind uns einige Gestalten genauer bekannt, die im Rahmen des wirtschaftlichen Engagements deutscher und niederländischer Kaufleute in dem Land lebten. Neben dem Brasilholzhandel sollte sich der Zuckeranbau als ein einträgliches Geschäft für europäische Handelshäuser erweisen. Die Zuckerverarbeitung in den engenhos genannten Zuckermühlen war aufwendig. Für die Verwaltung der bald mit Hilfe von Sklavenarbeit betriebenen Zuckermühlen brauchte man auch gebildetes Personal. Der bekannteste Faktor (so die Bezeichnung für die Handelsvertreter) war Peter Rösel, deutscher Verwalter des Antwerpener Handelshauses der Schetz in São Vicente, von Hans Staden mehrmals in seiner Wahrhaftigen Historia 1557 und von Ulrich Schmidel, der bei seiner Rückreise aus Paraguay 1553 nach São Vicente kam, in seinem Reisebuch erwähnt. Durch Handelsakten sind wir über das Leben von Pedro Rouzée alias Peter Rösel gut unterrichtet. Schon um 1535 war der aus Arras stammende Rösel für das Handelshaus der Schetz in Antwerpen tätig. In einer Quelle von 1548 wird er als schon einige Zeit in São Vicente ansässiger Faktor der Schetz bezeugt. Er kehrte nach Europa zurück und wurde 1565 erneut von Schetz nach São Vicente geschickt, das Schiff wurde aber von französischen Piraten aufgebracht, Rösel gelangte dabei nach Santo Domingo. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt. Ein Jerônimo Rouzée, vielleicht ein Sohn, ist um 1568 in Lissabon als Händler bezeugt.

Ein anderes Beispiel ist Heliodorus Hessus, der Sohn des damals sehr bekannten Marburger Humanisten Helius Eobanus Hessus (1488-1540). Heliodorus arbeitete seit 1548 als Schreiber in der Zuckermühle des Giuseppe Doria bei São Vicente, was Hans Staden in seinem Buch von 1557 berichtet. Heliodorus wurde ein persönlicher Freund Stadens. In portugiesischen Quellen taucht  er als Eliodoro Ebanos auf, er blieb in  Brasilien, beteiligte sich an Kämpfen gegen  die Franzosen in der Bucht von Rio, die dort  unter Nicolás de Villegagnon ab 1555 einen  kurzlebigen Koloniegründungsversuch  unternommen hatten. . Heliodorus kam wohl 1568/69 bei Kämpfen am Cabo Frio ums Leben, wenn man der Erwähnung seines Todes in dem Buch Imagem da virtude em o noviciado da Companhia de Jesus no Real Collegio de Jesus de Coimbra em Portugal von Antonio Franco, 1719 in Evora gedruckt, Glauben schenken darf.

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen als eigene Rückwirkung der Entdeckung des Landes auch in Europa beginnen mit Bildern (s. Brasilien in Illustrationen des 16. Jahrhunderts, 2000). Der leistungsfähige deutsche Buchhandel hat nach den Angaben in Amerigo Vespuccis nur teils authentischen Reiseberichten schon bald zahlreiche Ausgaben in Übersetzung herausgebracht, es erschienen auch zwei Einblattholzschnitte, wie die Neuen Zeitungen ein ungemein populäres Genre in der Zeit. Die zwei in unterschiedlichen Versionen erhaltenen Holzschnitte (Das sind die neu gefunden menschen, wohl in Nürnberg bei dem Drucker Stuchs; der andere, Diese figur anzaigt,  wohl in Augsburg bei Froschauer gedruckt) stammen  aus der Zeit um 1505, parallel zu den Buchausgaben des Vespucci-Berichts auf Deutsch als Von den neuen Inseln, mehrere Ausgaben an verschiedenen Orten 1505/1506, von denen einige auch illustriert wurden, so die Ausgabe durch den Straßburger Drucker Grüninger als Diß Büchlin saget, 1509 (vgl. Obermeier 2003). Der erste der Einblattholzschnitte  zeigt die Ankunft der Europäer, von den  brasilianischen Indianern an der stilisierten  Küste betrachtet, der andere nach einer  Vespucci-Schilderung ebenfalls den ersten  Kontakt, aber im Vordergrund bildfüllend  eine Illustrierung des von Vespucci  beschriebenen Kannibalismus  in der Neuen Welt. Dieses Motiv wird fortan das  Brasilienbild in Europa begleiten, von den  Bildern der anthropophagen Tupinamba- Indianer der Küste in Stadens Historia von 1557 bis zu heutigen Geschichtswerken. Ein Nachklang ist das berühmte „Manifesto antropófago“ von 1928, in dem der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade (1890-1954) nach der von ihm mitgestalteten Semana de Arte moderna das gestiegene Selbstbewusstsein der jungen brasilianischen künstlerischen und literarischen Avantgarde auf eine griffige Formel brachte, in der das Aneignen europäischer Kultureinflüsse in einem Prozess der Umgestaltung in das Bild einer „anthropophagen“ Selbstaffirmation der jungen Künstler gefasst wird.

Die deutsche Literatur über Südamerika im 16. Jahrhundert ist geprägt durch zwei deutsche Reisende, deren Bücher zu den wichtigsten Reisebüchern der frühen Neuzeit überhaupt zählen, Hans Staden und Ulrich Schmidel (auch Ulrico Schmidl als spanische Namensform). Hans Stadens Warhaftige Historia ist das erste ausschließlich Brasilien gewidmete Buch, das in Europa im 16. Jahrhundert erschien. Selbst in Portugal erschien im ganzen Jahrhundert nur ein Buch, die erwähnte Historia von Magalhães de Gândavo (1576). Viele der Abhandlungen über das Land blieben in Manuskriptform erhalten und wurden erst später ediert.

Hans Staden stammte aus dem hessischen Homberg an der Efze, wo er in den 1520er Jahren geboren wurde. Er unternahm zwischen 1548 und 1555 zwei Reisen nach Brasilien; die erste führte ihn ins nordbrasilianische Recife, wo er das benachbarte Igaraçu gegen die Indianer verteidigen half. Seine zweite Reise sollte ihn eigentlich auf einem spanischen Schiff in den La Plata-Raum führen, die Expedition scheiterte in Südbrasilien. Nach mehrjährigem Aufenthalt kam die Gruppe der Reisenden nach São Vicente. Staden verdingte sich als Kommandant  einer Festung auf der Insel Santo Amaro in der Bucht von Santos, wo er 1554 von Tupinambá- Indianern gefangengenommen und in ihre Siedlungen verschleppt wurde. Vermutlich wollten die Indianer ihre lukrativen Überfälle auf das nahegelegene, wohlhabende São Vicente fortsetzen und hatten sich deshalb Stadens bemächtigt, der im Dienste des brasilianischen Generalgouverneurs gerade  für den Schutz einer strategisch wichtigen  Wasserstraße nach São Vicente sorgen  sollte. Staden lebte nach eigenen Angaben  mehrere Monate als Gefangener bei den menschenfressenden Tupinambá-Indianern,  die mit den Franzosen verbündet waren und die Portugiesen heftig bekriegten. Die Beschreibung seiner Zeit unter den Indianern ist ein Meisterwerk der frühen Ethnographie und Mentalitätsgeschichte. Staden überlebte nur durch eine für den Zeitkontext erhebliche, wenn auch nicht außergewöhnliche Angleichung an indianische Denkstrukturen und seine Betätigung als indianischer Schamane. Er konnte schließlich 1554 auf einem französischen Schiff als freigekaufter Sklave über Frankreich nach Deutschland zurückkehren.

Auf Anregung des Marburger Professors  Johannes Dryander gab Staden 1557 in Marburg sein Buch heraus. Dryander, der gleichzeitig Zensor der dortigen noch jungen protestantischen Universität war,  schrieb das Vorwort. Stadens Bericht enthielt im Vergleich zu den frühen Berichten über Amerika erheblich erweiterte Angaben über die Kultur und insbesondere die Anthropophagie der Tupinambá-Indianer; ja, er bot das erste wichtige Bildkorpus zu dem Land. Staden hatte von Reißern und Formschneidern alle wichtigen Episoden seines Berichts nach eigenen Vorgaben illustrieren lassen, und in einem zweiten, dem Original angefügten Buch zahlreiche ethnologische Beobachtungen mitgeteilt, darunter auch die drastisch bebilderte Wiedergabe der rituellen  Tötung und Verspeisung von Gefangenen. Es gab Zweifel an der Authentizität dieser Angaben, aber die zahlreichen Quellen zur Anthropophagie der Stämme bestätigen Staden in vielen Details. Der persönliche Ton seines Berichts und seine Zeugenschaft für den protestantischen Glauben eröffneten dem Werk ein breites Publikum. Bis heute ist Stadens Werk eines der meist aufgelegten Brasilienbücher mit insgesamt über 100 Bearbeitungen und Übersetzungen in 10 Sprachen.

Theodor de Bry hat den durch zahlreiche Neuauflagen verbreiteten Reisebericht  Stadens im dritten Band seiner Sammlung 1592 lateinisch, ein Jahr später auch deutsch in Frankfurt/ Main veröffentlicht: Dritte Buch Americae, Darinn Brasilia durch Johann Staden von Homberg auß Hessen – zusammen mit Jean de Lérys deutscher Erstfassung seiner Historia der Schiffart ... in Brasilien (als Histoire d’un voyage erstmals Genf 1578).  In enger Anlehnung an die Bildvorlagen der Erstausgabe von Staden gab er diesem Teil des Bandes mehr als zwei Dutzend halbseitige Kupferstiche bei, die das Brasilienbild der Zeit entscheidend prägten. Bry übernahm für seinen Sammelband insbesondere Aufbau und Struktur der  Stadenschen Holzschnitte. Auch die Gestalt  des betenden und seine Hände zum Himmel  ringenden Gefangenen wurde übernommen, weil er damit das moralische Werturteil der Zeitgenossen über den Kannibalismus  in seine Ikonographie integrieren konnte.

Ein Grund, warum Staden bis heute so präsent ist, ist sicher, dass sein Buch eine umfangreiche Rezeptionsgeschichte hat, zu der sich sein Bericht als eines der wenigen persönlich gefassten  der Zeit auch anbot. Durch die berühmte Bearbeitung  als Jugendbuch von Monteiro Lobato (Hans Staden, São Paulo 1925/26) ist die Geschichte Stadens auch brasilianischen Kindern bekannt. Zwei Filme inspirieren sich an ihr, der erste von dem wichtigen Regisseur des Cinéma novo, Nelson Pereira dos Santos, Como era gostoso meu francês (1971), der zweite, enger an das Original angelehnt, von Luiz Alberto Pereira mit dem Titel Hans Staden (1999). Staden gehört damit heute zum nationalen Imaginarium Brasiliens, das Martius-Staden Institut in São Paulo trägt seinen Namen, in seinem späteren hessischen Wohnort Wolfhagen widmet ihm das Regionalmuseum eine Abteilung.

Der zweite wichtige deutsche Lateinamerikareisende der Epoche ist der Soldat Ulrich Schmidel. Etwas weniger bekannt als Staden, gehört sein Bericht über seinen fast zwanzigjährigen Aufenthalt im La Plata-Raum seit der Eroberung ab 1536 zu den ersten Büchern über die Region. Der aus Straubing stammende Schmidel hat seinen Bericht nicht selbst veröffentlicht. Sein erstmals 1567 wohl ohne sein Wissen publizierter Bericht, entstanden als Manuskript um 1554 (heute in Stuttgart in der Württembergischen Landesbibliothek), ist einer der frühen Augenzeugenberichte über die Conquista, die Eroberung des La Plata- Territoriums für die spanische Herrschaft, und als eines der wenigen Dokumente der Zeit nicht aus der Perspektive der spanischen Eroberer geschrieben, sondern als ein Text, den man heute als „Geschichte von unten“ bezeichnen würde. Schmidels Buch ist zwar in weiten Teilen ein unpersönliches historisches Manual, er bringt auch keine prinzipiellen kolonialkritischen oder indianerfreundlichen Bemerkungen, ist aber dennoch für einen Autor der Zeit durchaus  kritisch gegenüber den Auswüchsen der  Conquista eingestellt. Der Autor liefert uns als einer der wenigen Zeitgenossen ein  farbiges Bild des entbehrungsreichen Lebens  in den Kolonien. Sein Buch wurde auch durch  zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen  eines der verbreitetsten Werke über die frühe  Entdeckungszeit.

Für Brasilien ist das Buch nicht nur als Vergleich zu Stadens fast zeitgleichen Schilderungen  relevant. Während seiner Rückreise von Asunción nach São Vicente durchquerte Schmidel auch Brasilien. Er wusste von einem nach Asunción gekommenen Portugiesen, dass dort ein Schiff lag, das wie üblich mehrere Monate lang mit Brasilholz und anderen Gütern beladen wurde, und auf dem er reisen wollte. Auf dieser Reise an die Küste besuchte er den Ort Santo André da Borda do Campo, die Siedlung von João Ramalho. Der Portugiese Ramalho war seit ca. 1510 nach einem Schiffbruch an der brasilianischen Küste ansässig. Wie zahlreiche der für den Kontakt mit Indianern wichtigen Übersetzer, glich er sich vollständig an die indianische Lebensweise an und lebte polygam mit seiner zahlreichen Familie in einer eigenen Aldeia. Diese Siedlung Borda de Campo, später Santo André de Borda do Campo, ist eine der Keimzellen der später von den Jesuiten 1554 gegründeten Stadt Piratininga (São Paulo), das Dorf wurde später nach Piratininga verlagert. João Ramalho hatte eine zentrale  Rolle bei der Gründung der Capitania von São Vicente durch Martim Afonso de Sousa inne. Er starb im hohen Alter nach 1580 (sein Testament aus diesem Jahr ist erhalten). Schmidel hat João Ramalho zwar nicht persönlich angetroffen,  sein kurzer negativer Bericht über die Siedlung, die er mit einer Räuberhöhle vergleicht, auch wenn er gut behandelt wurde, ist aber die erste Schilderung des zukünftigen São Paulo überhaupt. Einige Historiker (Moura 1911, Maack 1959) haben versucht,  Schmidels Reiseweg durch Brasilien zu rekonstruieren, was bei seinen ungenauen Angaben nur sehr bedingt möglich ist. Heute liegt dieser brasilienbezogene Teil seines Buchs auch in portugiesischer Übersetzung vor (Kloster/Sommer 1942), das gesamte Werk leider nicht.

Zu den wenigen anderen Deutschen, die Brasilien in der kolonialen Frühzeit besucht haben, sind nur wenige sporadische Angaben überliefert. Sie sind in dem noch lesenswerten Buch von Karl Heinrich Oberacker (1985) aufgeführt. Dennoch erschienen durchaus viele Bücher über Brasilien in Deutsch (s. Domschke/ Obermeier 2011). Auch wenn Brasilien erst später durch die Holländische Kolonie in Nordbrasilien oder durch die wissenschaftlichen Reisenden des 19. Jahrhunderts eine wichtige Bedeutung für die deutsche Literatur gewann, sind doch vor allem Stadens und Schmidels Werke bleibende Zeugnisse über die koloniale Frühzeit mit einem unvoreingenommenen Blick, den viele der portugiesischen Tratados oder spanischen historiographischen Werke über den La Plata-Raum nicht in dem Maße aufweisen. Vielleicht sind sie auch deshalb für uns so interessant, weil sie den frühen Kulturkontakt zeigen, als die indigenen Gesellschaften  noch nicht so stark dem Druck europäischer Siedler ausgesetzt waren. Das Zeugnis dieser Reisenden ist für unser Wissen über die Epoche auf jeden Fall unverzichtbar.