Marcel Vejmelka

Anatol Rosenfeld: Vom deutschen Flüchtling zum brasilianischen Intellektuellen

Anatol Rosenfeld: Vom deutschen Flüchtling zum brasilianischen Intellektuellen
Buch von Anatol Rosenfeld

Die Anfänge von Anatol Rosenfelds Biografie liegen bis heute weitgehend im Dunkeln. Er selbst machte kaum Angaben zu seinem Leben in Deutschland und hinterließ auch keine entsprechenden Unterlagen. Die wenigen überlieferten Daten und Anekdoten stammen aus Erinnerungen von Freunden und Weggefährten und besagen, dass Anatol Rosenfeld 1912 wahrscheinlich in Berlin geboren wurde, dort in den 1920er Jahren das Friedenauer Gymnasium besuchte und ab 1931 an der Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) studierte. Er begann dort eine Promotion in Germanistik, musste diese aber abbrechen, als er 1935 oder 1936 Deutschland verließ.

Als Grund für seine Flucht wird allgemein die zunehmende Bedrohung der Juden durch das Nazi-Regime genannt. Roberto Schwarz (1987) berichtet ganz konkret, Rosenfeld habe während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin auf der Straße ausländischen Passanten auf Englisch eine Frage beantwortet, sei dabei von einem Spitzel beobachtet und anschließend zum Verhör wegen des Verdachts der „Verbreitung von Greuelmärchen“ vorgeladen worden. Rosenfeld floh daraufhin in die Niederlande, danach bleibt im Dunkeln warum und wie er 1937 schließlich nach Brasilien kam, und auch warum er nach 1945 nie wieder nach Deutschland zurückkehrte (Guinsburg 1995).

Brasilien wurde für Rosenfeld zur neuen Heimat. Er lernte Portugiesisch beeindruckend schnell und so gut, dass er bald seine Kritiken und Essays selbst verfassen konnte und im fremdsprachlichen Schreiben einen eigenen Stil entwickelte. Er ließ sich von Flucht und Exil nicht erschüttern, sondern machte sich in Brasilien umgehend daran, ein neues Leben aufzubauen. Nach dem Abbruch der Promotion in Deutschland war der Weg zurück in die Welt der Literatur – nun in einer anderen Sprache und einem anderen Land – lang und mühsam, doch er bewältigte ihn in vergleichsweise kurzer Zeit. Zunächst verdingte er sich als Arbeiter auf einer Kaffeeplantage bei Campinas, verkaufte danach als Handlungsreisender Krawatten in Mato Grosso. Ein ausdrucksstarkes Bild für sein Durchhaltevermögen ist die Erinnerung von Roberto Schwarz, Rosenfeld sei in dieser Zeit immer „mit zwei Koffern“ unterwegs gewesen – in dem einen befanden sich seine Warenproben, in dem anderen seine Bücher.

Dann ging Rosenfeld nach São Paulo, wo er vorerst nur von seinen Ersparnissen lebte. Wieder ist es Roberto Schwarz, der eindrucksvolle Bilder evoziert: Rosenfeld habe sich damals in einem kleinen Zimmer eingemietet, das nur mit einem Bett, einem Schreibtisch und unzähligen Büchern ausgestattet war. Er verbrachte fast die ganze Zeit mit dem Lesen vor allem brasilianischer Literatur, nahm ein wenig am sozialen Leben der deutsch-jüdischen Gemeinde teil und begann mit dem Schreiben. Décio de Almeida Prado fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: „Nachdem er die Hälfte der üblichen Immigrantenparabel durchlaufen hatte, die schmerzlichere Hälfte, nach der die Kurve anzusteigen begann, verließ er sie, um zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Er kehrte zu den Büchern, den Artikeln, den Privatstunden, zur journalistischen Arbeit zurück und wurde eine Art von Mittler zwischen der deutschen Kultur, die er so gut kannte, und der brasilianischen, die er zu lieben begann.“

Rosenfeld schrieb zunächst Buchbesprechungen und Artikel für Publikationen der jüdischen Gemeinde in São Paulo; zwischen 1954 und 1972 veröffentlichte er 13 Essays im Staden-Jahrbuch des gleichnamigen Instituts in São Paulo (heute Martius-Staden-Institut), das sich dem interkulturellen Dialog zwischen Deutschland und Brasilien widmet. Seinen Lebensunterhalt bestritt er zunächst durch privaten Literaturunterricht für die Damen des Großbürgertums von São Paulo. 1956 wurde er auf Initiative von Antonio Candido mit der Sparte „deutschsprachige Literatur“ im von Almeida Prado geleiteten Kulturteil der Tageszeitung O Estado de São Paulo betraut und übte diese Funktion bis 1967 aus. 1962-67 übernahm er auf Initiative des damaligen Direktors Alfredo de Mesquita eine Lehrtätigkeit am Theaterinstitut „Escola de Arte Dramática (EAD)“ der Universidade de São Paulo, ohne sich allerdings fest an die Universität zu binden.

Als Literaturkritiker, Essayist und Publizist war er in diesen Jahren ungemein produktiv und gewann immer mehr an Bedeutung im brasilianischen Geistesleben. Seine erste Buchpublikation Doze estudos erschien 1959, fokussiert Werke der deutschen Literatur und gilt heute als ein Klassiker der brasilianischen Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Rosenfelds Werk besteht ausschließlich aus Sammlungen zunächst vereinzelt veröffentlichter Aufsätze und Essays. Zu seinen Lebzeiten erschienen weitere drei Bände: O teatro épico (1965), Teatro alemão (1968) und Texto e contexto (1971). Nach seinem Tod sind unter der Leitung von Jacó Guinsburg zahlreiche weitere Sammlungen verstreuter und auch zuvor unveröffentlichter Texte erschienen.1

Anatol Rosenfeld trug grundlegend zur Rezeption deutscher Schriftsteller und Dramatiker in Brasilien bei, wie auch zur Entwicklung der brasilianischen Literaturund Theaterkritik. Aufgrund seiner Biografie kreisen die Themen seines Schaffens immer wieder um Fragen des interkulturellen Austauschs und der Vermittlung zwischen dem deutschen Sprachraum und Brasilien. Zeit seines Lebens befasste er sich intensiv mit Thomas Mann, vor allem vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Terrors, und mit Bertolt Brecht, den er mit Entwicklungen im brasilianischen Theater, z. B. durch Augusto Boal und das Teatro de Arena, in Beziehung setzte. So sieht Antonio Candido die herausragende Bedeutung von Rosenfeld in seiner „kritischen Intelligenz im Kampf gegen die Irrationalität und Brutalität dieser Welt“, die unvermeidlich vor dem Hintergrund seiner Exilerfahrung zu verstehen ist und die er ins brasilianische Geistesleben einbrachte.

Rosenfeld bemühte sich zunehmend auch um die Vermittlung brasilianischer Literatur und Kultur in den deutschen Sprachraum, publizierte zu diesem Zweck regelmäßig auf Deutsch, doch fanden diese Texte nur selten den Weg über die deutsch-brasilianischen Kulturkreise hinaus. So entsteht eine nachdenklich stimmende Asymmetrie zwischen Rosenfelds herausragender Bedeutung in Brasilien, gegenüber welcher er in Deutschland bis heute so gut wie unbekannt geblieben ist. Die Exilforscherin Izabela Maria Furtado Kestler (1992) klagte entsprechend: „Rosenfeld wird in keinem Nachschlagewerk [zum deutschsprachigen Exil in Brasilien] erwähnt, obwohl er zu einem der wichtigsten Literaturund Kulturvermittler Brasiliens geworden ist.“

Als Anatol Rosenfeld 1973 starb, rief Otto Maria Carpeaux – selbst ein aus Österreich stammender Exilant – in seinem Nachruf den Weg seines Schicksalsgenossen vom Flüchtling zu einem der einflussreichsten Intellektuellen Brasiliens in Erinnerung: „Ich kann seine anfänglichen Schwierigkeiten nachvollziehen, sich zurechtzufinden, relativ spät im Leben eine neue Sprache zu erlernen und (die größte Schwierigkeit von allen) von Intellektuellen als Intellektueller anerkannt zu werden.“

1 U. a. Mito e o Herói no Moderno Teatro Brasileiro (1982), História da Literatura e do Teatro Alemães (1993), Texto e contexto II (1993), Na Cinelândia Paulistana (2002), Cinema: Arte & Indústria (2003).